Zusammenfassung aus: Steinmetz, K.H., Webersberger R.: Traditionelle Europäische Medizin. Altes Heilwissen zeitgemäss anwenden; Wien/Graz 2019)
Die Geschichte lässt sich grob in neun Etappen beschreiben:
Einige Inhalte gehen auf aussereuropäische antike Hochkulturen zurück (Ägypten, Mesopotamien). Andere Spuren führen zurück in keltische, germanische oder altslawische Heilkunst. Sie wurden weitgehend mündlich überliefert und haben in der sog. Volksmedizin überlebt.
Die TEN im eigentlichen Sinn beginnt in Griechenland mit Hippokrates von Kos (460 v. Chr.). Seine Heilkunde wurde über Jahrhunderte in verschiedenen griechischen und römischen Schulen ausgestaltet. Galenos von Pergamon (129 n. Chr.) vereinte diese Schulen schliesslich inhaltlich unter einem Dach.
Nach dem Untergang des Römischen Reiches blieb die griechisch-römische Heilkunde in Städten wie Konstantinopel, Rom und vor allem in Klöstern lebendig. Gleichzeitig sprang der Funke aber auch in den persisch-arabischen Kulturraum. In einem Gemeinschaftsprojekt von Muslimen, Juden und Christen wurden die griechischen und römischen Texte ins Arabische übertragen und modernisiert. Am bekanntesten ist das Handbuch des persischen Arztes Avicenna. Sein Werk wurde im 12. Jh. ins Lateinische übersetzt und beeinflusste über Jahrhunderte die Medizinausbildung in Europa.
Ab dem 11. Jahrhundert trifft nun in Mitteleuropa Avicennas Gelehrtenmedizin auf die immer noch bestehende vorchristliche Volksmedizin und die blühende Klostermedizin. Hildegard von Bingen (1089), Universalgelehrte, Äbtissin und eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Klostermedizin, brachte alle drei Strömungen zusammen.
Ende des 11. Jahrhunderts wurden erste medizinische Universitäten in Europa gegründet. Die universitäre Medizin konnten sich aber nur wohlhabende Leute leisten. Für die Versorgung der breiten Bevölkerung war nach wie vor die Volks- und Klostermedizin massgeblich.
Paracelsus (1493–1541), Arzt und Naturphilosoph, unternahm eine wichtige Neuformation der Heilkunde. Aus seiner Sicht hatte sich nämlich der offizielle Medizinbetrieb von den Wurzeln der wahren Heilkunst weit entfernt und war zu einem bloss noch theoretischen und oberflächlichen Heilwissen verkommen. Er wollte verdrängtes medizinisches Wissen und neue Ansätze einbringen und provozierte damit viele seiner Zeitgenossen.
Das traditionelle Heilwissen wurde fortgeschrieben und in Schüben aktualisiert. Zahlreiche naturwissenschaftliche Entdeckungen (Zellularpathologie, Histologie, Physiologie, Chirurgie usw.) führten schliesslich im 19. Jahrhundert zu einem grundlegenden Umbruch in der Medizin. Die rein analytisch-naturwissenschaftlich basierte Medizin entwickelte sich zur «offiziellen» Medizin, während das traditionelle Heilwissen in den Hintergrund trat. Sie galt aus der Sicht der «offiziellen» Medizin als veraltet und falsch.
Zeitgleich entwickelten sich als Alternative und Ergänzung zur «offiziellen» Medizin Heilsysteme, die man mit der Bezeichnung «Naturheilkunde» zusammenfasste. Darunter fallen die Homöopathie, die Naturheilkunde nach Sebastian Kneipp, die anthroposophische Medizin usw. Sie können im weitesten Sinne als Weiterentwicklung vormoderner Heiltraditionen Europas verstanden werden.
Heute erlebt traditionelles Heilwissen eine Renaissance. Vielleicht, weil das mechanistische Weltbild, auf dem die «offizielle» Medizin basiert, in weiten Teilen an seine Grenzen stösst: Die Apparaturen werden stets genauer und teurer, die Menschen aber nicht gesünder.
Traditionelles Heilwissen, zu dem auch die Traditionelle Europäische Naturheilkunde gehört, hat aufgrund des naturphilosophischen Hintergrundes diagnostisch und therapeutisch viel zu bieten. Sie legt beispielsweise Zusammenhänge offen, die in der «offiziellen» Medizin aus dem Blickfeld geraten sind, weil sie die Symptome zu lange und zu oft isoliert betrachtete und behandelte.
Die naturwissenschaftliche Forschung hat zweifelsohne segensreiche Entdeckungen und Behandlungsmöglichkeiten hervorgebracht, die wir heute keinesfalls missen möchten. Heute ist es an der Zeit, dass die «offizielle» Medizin und die traditionelle Medizin ihre Erkenntnisse austauschen, um aus beiden Welten das Beste zum Wohle aller bereitzustellen.
Diesen Ansatz vertrete ich in meiner Praxis.