Alle Kulturen haben ihr traditionelles Medizinsystem. Du kennst vielleicht TCM (traditionelle chinesische Medizin) oder Ayurveda (traditionelle indische Medizin). Und möglicherweise sagt dir der Begriff TEN (traditionelle europäische Naturheilkunde) nichts. Der Begriff ist zwar ziemlich neu, der Inhalt aber jahrtausende alt. Die traditionelle Medizin unseres Kulturkreises ist nur vorübergehend etwas in Vergessenheit geraten. Warum?
Ein Teil der Medizin machte anfangs des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Wandel durch. Sie trennte sich von ihren naturphilosophischen Wurzeln und orientierte sich zunehmend an einer analytisch-naturwissenschaftlichen Denkweise. In diesem Zuge wurden z. B. wichtige Entdeckungen von Krankheitserregern gemacht, und es entstanden erste Kliniken. Im Laufe der Zeit bildeten sich medizinische Fachrichtungen und Spezialisierungen heraus, wie wir sie heute kennen. Das isolierte Symptom und seine Beseitigung stand ab da im Vordergrund.
Die Möglichkeit der Chemie, Stoffe synthetisch herzustellen, hatte diesen Trend noch verstärkt. Unterdessen ist die Pharmaindustrie zu einem sehr bedeutenden Wirtschaftszweig geworden.
Forschung ist nicht aufzuhalten, das gilt auch für die Medizin. Und das ist auch gut so. Nun gilt es aber auch zu bedenken, dass einseitige Entwicklungen neue Probleme schaffen, in der Medizin zum Beispiel unerwünschte neue Symptome bei der Langzeit-Einnahme von Medikamenten, sogenannte Nebenwirkungen.
Dieser neue Zweig der Medizin (die sogenannte «Schulmedizin») und der traditionell-naturheilkundliche Zweig, der über 200 Jahre im Schatten stand, bestehen heute nebeneinander.
Zurzeit wächst das Bedürfnis nach ganzheitlicheren und traditionellen Behandlungs-Methoden stark. Viele Menschen wissen intuitiv, dass ihre Symptome nur die Oberfläche eines tieferliegenden Problems darstellen und dass ihnen so viel synthetische Chemie in Medizin und Umwelt langfristig nicht gut tun.
Immer mehr Menschen wünschen darum eine Behandlung mit Heilpflanzen, die in unseren Gegenden wachsen und fragen nach einer Ernährungstherapie, die gesunde Lebensmittel aus unserem Kulturkreis empfiehlt.
Die TEN erlebt eine Renaissance. Zu Recht, denn sie hat aufgrund ihres naturphilosophischen Hintergrundes diagnostisch und therapeutisch viel zu bieten. Sie legt beispielsweise Zusammenhänge offen, die in der neuen Medizin aus dem Blickfeld geraten sind, weil sie die Symptome zu lange und zu oft isoliert betrachtete und behandelte.
Dennoch – die Forschung der neuen Medizin hat segensreiche Entdeckungen und Behandlungsmöglichkeiten hervorgebracht, die wir heute nicht missen möchten. Darum sollten sich die naturwissenschaftlich-analytische und die naturphilosophische Medizin ergänzen, sie sollten gegenseitig von Erkenntnissen profitieren und sich nicht bekämpfen oder ignorieren, zumal sie einen gemeinsamen historischen Ursprung haben (Hippokrates 460 v. Chr. und Galen 129 n. Chr.).
An diesem gemeinsamen Ursprung orientiert sich die traditionelle europäisch-westliche Naturheilkunde. Sie orientiert sich an den Gesetzen und Phänomenen der Natur und des Kosmos und begreift das Krank- und Gesundwerden auch in diesem erweiterten Sinne.